Auszug ab Seite 161:

2. DER AUFSTIEG

Mit Koffern bepackt fand ich mich am alten Strom ein, um auf Reede aufsteigen zu können. Ein Rettungsboot sollte mich abholen, das auch nicht lange auf sich warten ließ. Zwei Mann tuckerten langsam zum Steg: „Bist du der neue Vierte Nautiker? Du willst an Bord?" „Ja" „Zuerst wird etwas getrunken. Lass deine Koffer im Boot." In der nahe gelegenen Kneipe nahmen wir einen zur Brust. Auf einmal gingen die Westlullen aus. „Ihr könnt welche von mir haben. Aber holen müßt ihr sie euch selbst aus dem Koffer." Kaum gesagt, verschwand der eine der Bootsfahrer. Als er sich wieder an den Tisch setzte, traute ich meinen Augen nicht. „Was ist los?" „Oh, ich bin ins Wasser gefallen und hab mich schnell bedient, denn so konnte ich ja nicht bleiben." Ich hastete raus und fand den durchwühlten Koffer offen im Boot liegen. Jetzt reichte es mir. Wir brachen auf und kämpften uns bis zur Reede durch. An Bord meldete ich mich sogleich beim Kapitän, der mich kurz begrüßte und mich an den EO „Blümchen" verwies. Ich stellte mich bei dem genannten vor: „Genosse Blümchen, ich soll mich bei Ihnen melden, ich bin der neue IV. Offizier." Verwundert hörte ich: „Was heißt hier Blümchen. Ich heiße Blume und nicht Blümchen. Merken Sie sich das für die Zukunft!" Mir wurde klar, dass das ein denkbar schlechter Start war.

Das Fünf-Luken-Schiff, ein Typ X, verfügte über gewaltige Aufbauten. Der Schwerpunkt des Schiffes lag sehr hoch, die Rollamplituden gingen weit über das normale Maß hinaus und gerade das gab dem Schiff ein gutes Seegangsverhalten. Das Innenleben der Aufbauten galt damals als sehr ausgereift, großzügig und in der Schifffahrt weltweit als beispielgebend. Die Vollklimatisierung der Aufbauten gewährleistete erträgliche Wohnverhältnisse in allen Breiten. Individuell ließ sich die Klimaanlage noch nicht regeln. Meine IV.-Kammer lag neben der des Chief Mates. Die Klappcouch konnte zum Doppelbett ausgezogen werden. Es gab viel Platz und ein riesiges Waschbecken. WC und Dusche erreichte ich über den Gang und teilte mir beides mit dem Funker. Die Wetterdecklukenabdeckung bestand aus aneinandergereihten Sargdeckeln, die beim Öffnen auf eine quer über die Luke laufende Rolle aufgetrommelt wurden. Die Zwischendecksöffnungen standen mit ihrem Süll über das Deck hinaus und mit eisernen „Handmacgregor", einzelne Lukendeckel, wurden die Schiebescherstöcke per Hand belegt, so dass die Zwischendecksluken der kommenden Gabelstaplerzeit keinesfalls Rechnung trugen. Großzügig war der Maschinenraum angelegt. Ein ruhiger durchkonstruierter MAN-Bock, auch Hobel genannt, ein Lizenzbau aus dem Dieselmotorenwerk Rostock, verlieh dem Schiff eine Geschwindigkeit von 15 kn. Es war einer der wenigen Schiffstypen, der vor dem Bau durch die DSR-Inspektoren begutachtet werden konnte. Zu diesem Zweck schlossen sich Konstrukteure und Reedereiexperten für Tage in der „Trotzenburg" am Rostocker Zoo ein und diskutierten bei Köhm und Bier über Vor- und Nachteile. Die ersten Schiffe erhielten für die Indienfahrt einen Heckanker. Doch später erkannte man die Nutzlosigkeit und ließ den Anker einfach weg. Chefinspektor Zinn verfügte gleich auch die Einsparung des Heckankerspills. Doch als er selbst eins der Schiffe bestieg, ließ er aufgrund seiner Persönlichkeit die fehlenden Spills, die unabdingbar notwendig waren, nachrüsten, so dass letztlich die Schiffe als vollwertig und westlichen mit gehobenen Standard ebenbürtig galten.

Kaum aufgestiegen liefen wir nach Wismar ab. Kapitän „Glühkolben" ließ Blümchen gewähren. Wie auf einem Passagierschiff verstand sich der Kapitän als Repräsentant der Company. Nüchtern verließ er kaum jemals die Kammer. Vor Abgang Wismar klappte er volltrunken ab. Blümchen nahm alles in die Hand, während ich, mich immer förmlich überschlagend, in die Navigation einstieg. Blümchen verlangte mehr als gewöhnlich von mir, verfügte aber selbst über ein ungeheures Standvermögen. Als wir gerade in Hamburg festgemacht hatten, erschien der Kapitän verschlafen auf dem Gang und ordnete, als er Blümchen zufällig sah, an: „Bestellen sie Lotsen und Schlepper und den übrigen Kram. Wir wollen auslaufen." Verdutzt fragte Blümchen: „Warum? Das Schiff ist doch gerade erst fest." Jetzt lag das Erstaunen beim Kapitän. „Wieso? Wo sind wir jetzt, nicht mehr in Wismar?"

Unser Stelldichein am Diestelkai währte nur kurz. Riesige Mengen alter LKW und PKW-Achsen, für Pakistan und Indien bestimmt, gelangten in die Räume und das auslaufende Altöl durchtränkte die kostbare hölzerne Bodenwegerung. Das Gewicht der Packstücke lag immer weit über dem angegebenen Gewicht. Die Pakistaner und Inder sind nicht nur Meister im Hintergehen von Steuern und gute Händler. Über Jahre führten sie den europäischen Zoll, die Spediteure und Reeder speziell mit dem Achsengeschäft hinters Licht, wobei trotz allem alle daran verdienten. Weiteres Stückgut und gebrauchte Baufahrzeuge für Akaba wurden sicher verstaut.

Die Stauerei feierte ein großes Jubiläum und lud die im Hafen liegenden Schiffsleitungen zu einer Barkassenfahrt Elbe abwärts ein. Glühkopf war von den Damen der westlichen Welt begeistert, lud nach der Rückkehr die ausgelassenen und nicht mehr ganz nüchternen Barkassengäste großzügig zu sich an Bord ein. Sein Wahl­ spruch „Hoch die Tassen" schallte durchs Schiff. Morgens verschwanden die letzten Gäste. Blümchen übernahm das Kommando und ab ging es nach Rotterdam.

In Rotterdam bestand die Zuladung aus Stückgut und alten Baufahrzeugen. Zum Schluss zählten wir mehrmals die Baufahrzeuge, riesige Kipper von jeweils 36 t das Stück und kamen immer wieder auf die gleiche Zahl - 29 statt auf 30. Die Stauerei ließ nicht mit sich reden. Sie zählte ein bestimmtes Hamburger Fahrzeug immer wieder mit, da sie vorgab, dass dieses in Rotterdam manifestiert werden würde. Mit diesem Disput, den wir zum Glück schriftlich festgehalten hatten, liefen wir via Antwerpen nach Akaba. Dort wurde das Fehlen des LKW sofort bemerkt. Telegramme gingen hin und her. Rotterdam empfahl uns, nochmals das Schiff zu durchsuchen! Der LKW blieb unauffindbar, während wir nach Karachi liefen. An Bord schien das im Raum stehende Problem niemanden zu interessieren. Der Alte, früher Kreissekretär der FDJ in Wismar, hatte sich auf der Seefahrt­ schule nur mit Politik befasst. Er rief den IL NO zu sich, der damals für die Ladung verantwortlich zeichnete und ließ sich den Vorgang erläutern. Da er den Kopf aber mit anderen Problemen voll hatte, kapitulierte er vor dem Papierberg, den der Zweite vor ihm ausbreitete. Schmunzelnd zog sich der Zweite zurück und lud uns, von der Unwissenheit des Alten berichtend, zum „Radeberger" ein, das selbst der Purser des Schiffes nicht aufbieten konnte. Seit Rostock floss in der Kammer des Zweiten das Radeberger in Strömen und das bis Reiseende. Er bediente sich an der Ladung, wie unschwer festzustellen war. Viel später in einem anderen Fahrtgebiet sondierte er systematisch die Ladungsunterlagen und beraubte großzügig und organisiert die Güter, bis die Kripo ihm das Handwerk legte.

Das Privileg, etwas Besonderes zu sein und deshalb auch besonders bedient zu werden, nahm der Schiffsrat für sich in Anspruch. Wann immer es ihm angebracht erschien, ließ der Purser Karlsberger Bier für den besagten Kreis servieren. Wir übrigen Offiziere durften das süffisante Gehabe der Elite bewundern. Von den Devisen Bier bekamen wir nichts ab, selbst auch nicht für einen Überpreis. Für uns blieb das Rostocker Bier, das schnell Kopfschmerzen verursachte.

Blümchen hatte mich so weit eingearbeitet, dass ich allein Wache gehen konnte. Die Skat- und Doppelkopfrunde des Alten konnte damit früh starten, denn der Abend war lang. Auch der Zweite gehörte zur Runde und erschien deshalb ganz selten mal nüchtern zur Wache. Nachts parkte er bald seinen Körper in einer dunklen Ecke der Brücke und ruhte nach dem Motto „Ein guter Wachsmann hat nach der Wache ausgeschlafen" bequem ab. Unser überaus ängstlicher Funki, der Drahtlose, der Spark oder auch Wireless genannt, klagte jetzt nur noch über schlaflose Nächte. Als er im Indik vor unserem Schiff ein Licht bemerkte, stürzte er in die Brücke und rüttelte den Zweiten wach, der sich dann ans Fenster bequemte und meinte: „Du Idiot, das ist doch ein Mitläufer. Deshalb hättest du mich nicht wecken brauchen."